In den dichten, uralten Wäldern rund um das kleine Dorf Bretonnières im Jura-Nord vaudois, wo die Bäume in den Himmel ragen und das Unterholz dicht und undurchdringlich ist, rankt sich eine Sage, die seit Generationen weitergegeben wird. Es ist die Geschichte von Léonard, einem jungen Holzfäller, der eines Tages tiefer in den Wald vordrang, als jemals zuvor ein Mensch gewagt hatte.
Eines frühen Morgens, als der Nebel noch schwer auf den Wipfeln der Bäume lag und die ersten Sonnenstrahlen zaghaft durch das Blätterdach brachen, machte sich Léonard auf den Weg. Er war ein kräftiger Mann mit breiten Schultern und einem Herz, das für die Natur schlug. Doch an diesem Tag war etwas anders – eine unerklärliche Unruhe trieb ihn an, tiefer und tiefer in den Wald zu gehen.
Nach Stunden des Marschierens, als die Sonne bereits hoch am Himmel stand, stieß Léonard auf eine Lichtung, die er noch nie zuvor gesehen hatte. In der Mitte dieser Lichtung stand ein uralter Baum, dessen Stamm so dick war, dass ihn zehn Männer nicht hätten umfassen können. Der Baum schien zu glühen, als ob ein inneres Feuer ihn erleuchtete, und seine Blätter flüsterten in einer Sprache, die Léonard nicht verstand.
Fasziniert und zugleich verängstigt trat Léonard näher. Als er den Baum berührte, durchfuhr ihn ein Schauer und er hörte eine Stimme, die aus den Tiefen des Waldes zu kommen schien. “Léonard,” flüsterte die Stimme, “du bist auserwählt, das Geheimnis des Waldes zu bewahren. Doch hüte dich vor der Gier, die in den Herzen der Menschen wohnt.”
Verwirrt und erschrocken wich Léonard zurück. Doch bevor er sich abwenden konnte, öffnete sich vor ihm ein Spalt im Baumstamm und gab den Blick auf eine Treppe frei, die in die Dunkelheit führte. Ohne zu zögern, stieg Léonard hinab, angetrieben von einer Mischung aus Neugier und einem Gefühl der Bestimmung.
Die Treppe führte zu einer unterirdischen Kammer, die von einem sanften, goldenen Licht erhellt wurde. In der Mitte der Kammer stand ein steinerner Altar, auf dem ein uraltes Buch lag. Das Buch war in Leder gebunden und mit seltsamen Symbolen verziert, die Léonard noch nie gesehen hatte. Als er das Buch aufschlug, entfalteten sich vor seinen Augen Geschichten und Geheimnisse, die so alt waren wie die Welt selbst.
Léonard verbrachte Stunden damit, das Buch zu studieren, bis er schließlich die letzte Seite erreichte. Dort fand er eine Prophezeiung, die von einem großen Unheil sprach, das über das Land kommen würde, wenn die Geheimnisse des Waldes in falsche Hände gerieten. Léonard erkannte, dass es seine Aufgabe war, das Wissen zu bewahren und zu schützen.
Als er die Kammer verließ und die Treppe hinaufstieg, spürte er, wie der Wald ihn umarmte und ihm seine Kraft verlieh. Von diesem Tag an war Léonard nicht mehr nur ein einfacher Holzfäller; er war der Hüter des Waldes, der Beschützer des alten Wissens.
Die Jahre vergingen, und Léonard wurde alt. Doch die Geschichte von seinem Abenteuer und dem Geheimnis des Waldes von Bretonnières lebte weiter. Die Dorfbewohner erzählten sie ihren Kindern und Enkeln, und so wurde sie von Generation zu Generation weitergegeben.
Man sagt, dass der Wald noch immer seine Geheimnisse birgt und dass der Geist von Léonard über ihn wacht. Und manchmal, wenn der Wind durch die Bäume rauscht und die Blätter flüstern, kann man die Stimme des Waldes hören, die von alten Zeiten und vergessenen Geheimnissen erzählt.