In den sanften Hügeln des Aargauer Mittellands, eingebettet zwischen saftigen Wiesen und dichten Wäldern, liegt das beschauliche Dorf Oberentfelden. Die Einwohner dieses kleinen Ortes kennen sich seit Generationen, und die Geschichten und Legenden, die sie sich am Kaminfeuer erzählen, sind so alt wie das Dorf selbst. Eine dieser Geschichten, die von den Alten immer wieder geflüstert wird, handelt von einem geheimnisvollen Totenmännchen, das in den Wäldern um Oberentfelden sein Unwesen treibt.
Es war vor vielen Jahren, als ein junger Bauer namens Jakob in Oberentfelden lebte. Jakob war ein fleißiger und ehrlicher Mann, der seine Felder bestellte und sein Vieh hütete. Eines Abends, als die Sonne hinter den Hügeln versank und der Himmel in ein tiefes Rot getaucht war, beschloss Jakob, noch einen letzten Rundgang durch seine Felder zu machen. Er nahm seine Laterne und machte sich auf den Weg.
Jakob hatte gerade den Rand des Waldes erreicht, als er ein leises, klagendes Wimmern hörte. Er blieb stehen und lauschte. Das Geräusch kam aus dem dichten Unterholz. Vorsichtig schob er die Zweige beiseite und entdeckte einen kleinen, alten Mann, der auf dem Boden kauerte und vor Schmerzen stöhnte. Der Mann war in zerlumpte Kleidung gehüllt und sein Gesicht war von tiefen Falten durchzogen.
„Guter Mann, was ist Euch zugestoßen?“ fragte Jakob besorgt.
Der alte Mann hob den Kopf und blickte Jakob mit traurigen Augen an. „Ich bin auf der Suche nach meiner letzten Ruhestätte“, sagte er mit schwacher Stimme. „Seit vielen Jahren wandere ich durch diese Wälder, auf der Suche nach Frieden.“
Jakob, der ein mitfühlendes Herz hatte, bot dem alten Mann seine Hilfe an. „Kommt mit mir, ich werde Euch ein warmes Bett und etwas zu essen geben.“
Doch der alte Mann schüttelte den Kopf. „Ich danke dir, junger Mann, aber ich kann nicht bleiben. Mein Schicksal ist es, zu wandern, bis ich meinen Frieden finde. Doch ich habe eine Bitte: Wenn du jemals einen kleinen Hügel mit einem einzelnen, alten Baum findest, dann lege einen Stein darauf. Vielleicht werde ich dann endlich Ruhe finden.“
Jakob versprach, dem Wunsch des alten Mannes nachzukommen, und half ihm auf die Beine. Der alte Mann bedankte sich und verschwand im Dunkel des Waldes. Jakob kehrte nach Hause zurück, doch die Begegnung ließ ihn nicht los.
In den folgenden Tagen durchstreifte Jakob die Wälder um Oberentfelden, immer auf der Suche nach dem beschriebenen Hügel. Eines Tages, als er schon fast die Hoffnung aufgegeben hatte, entdeckte er einen kleinen, unscheinbaren Hügel mit einem knorrigen, alten Baum darauf. Er erinnerte sich an die Worte des alten Mannes und hob einen Stein auf. Mit einem stillen Gebet legte er den Stein auf den Hügel.
In dieser Nacht hatte Jakob einen seltsamen Traum. Der alte Mann erschien ihm und lächelte. „Danke, junger Mann“, sagte er. „Du hast mir den Frieden gebracht, den ich so lange gesucht habe.“ Mit diesen Worten verschwand der alte Mann und Jakob erwachte.
Von diesem Tag an erzählte Jakob jedem, der es hören wollte, die Geschichte des Totenmännchens und des kleinen Hügels. Die Dorfbewohner von Oberentfelden begannen, ebenfalls Steine auf den Hügel zu legen, um dem alten Mann ihren Respekt zu erweisen. Der Hügel wurde bald als „Totenmännchen-Hügel“ bekannt und zu einem Ort der Besinnung und des Gedenkens.
Die Jahre vergingen und die Geschichte des Totenmännchens wurde von Generation zu Generation weitergegeben. Noch heute legen die Menschen von Oberentfelden Steine auf den Hügel, in der Hoffnung, dass der alte Mann in Frieden ruht. Und manchmal, wenn der Wind durch die Bäume rauscht und die Schatten lang werden, kann man das leise Wimmern des Totenmännchens hören, das dankbar über die Felder von Oberentfelden wandert.