In den sanften Hügeln des Emmentals, wo die saftigen Wiesen und dichten Wälder das Land bedecken, liegt das beschauliche Dorf Höchstetten. Hier, inmitten der friedlichen Landschaft, steht ein uralter Baum, dessen knorrige Äste und mächtiger Stamm von unzähligen Jahren und Geschichten zeugen. Die Einheimischen nennen ihn ehrfürchtig den “Alten Baum von Höchstetten” und erzählen sich seit Generationen eine düstere Sage, die mit diesem Baum verbunden ist.
Es war ein kalter Winterabend im Jahr 1645, als der junge Bauer Jakob Müller spätabends von den Feldern heimkehrte. Der Schnee knirschte unter seinen schweren Stiefeln, und sein Atem bildete kleine Wölkchen in der eisigen Luft. Jakob war ein fleißiger Mann, doch an diesem Abend war er ungewöhnlich spät dran, da er noch einige letzte Vorbereitungen für den kommenden Winter treffen musste.
Auf seinem Weg nach Hause führte ihn sein Pfad am alten Baum vorbei. Der Baum stand einsam am Rande eines kleinen Hains und war selbst an den hellsten Tagen von einer düsteren Aura umgeben. Die Dorfbewohner mieden den Baum, besonders bei Nacht, denn es hieß, dass dort ein Fluch lastete.
Jakob war jedoch nicht abergläubisch und schenkte den Geschichten der Alten wenig Beachtung. Doch als er den Baum an diesem Abend passierte, verspürte er plötzlich eine unheimliche Kälte, die nichts mit dem Winterwetter zu tun hatte. Ein eisiger Schauer lief ihm über den Rücken, und er hörte ein leises Flüstern im Wind, das seinen Namen zu rufen schien.
Er blieb stehen und blickte sich um, doch außer dem Rascheln der Blätter und dem Heulen des Windes war nichts zu hören. Jakob schüttelte den Kopf und setzte seinen Weg fort, doch das Gefühl der Beklommenheit ließ ihn nicht los. Als er endlich sein Bauernhaus erreichte, erzählte er seiner Frau Anna von dem seltsamen Erlebnis. Sie war eine weise Frau und riet ihm, in den kommenden Tagen besonders vorsichtig zu sein.
In den folgenden Nächten wurde Jakob immer wieder von unheimlichen Träumen heimgesucht. Er sah den alten Baum, dessen Äste sich wie knochige Finger nach ihm ausstreckten, und hörte das Flüstern, das immer lauter wurde. Eines Nachts, als der Vollmond den Himmel erleuchtete, entschloss sich Jakob, dem Geheimnis des Baumes auf den Grund zu gehen.
Mit einer Laterne in der Hand machte er sich auf den Weg zum Baum. Der Mond warf gespenstische Schatten auf den Schnee, und das Dorf lag in gespenstischer Stille. Als Jakob den Baum erreichte, bemerkte er, dass der Boden um den Stamm herum aufgewühlt war, als hätte jemand kürzlich dort gegraben.
Er kniete sich nieder und begann, den Schnee und die Erde beiseite zu schieben. Nach einer Weile stieß er auf etwas Hartes. Es war eine alte, verrostete Truhe. Mit zitternden Händen öffnete Jakob die Truhe und fand darin ein altes Buch, dessen Seiten von der Zeit vergilbt waren. Auf dem Einband war ein seltsames Symbol eingraviert, das ihm unbekannt war.
Jakob nahm das Buch und brachte es nach Hause. Gemeinsam mit Anna begann er, die vergilbten Seiten zu studieren. Es stellte sich heraus, dass das Buch eine Sammlung alter Zaubersprüche und Flüche war, die einst einem mächtigen Hexenmeister gehört hatten. Der Hexenmeister hatte den Baum vor Jahrhunderten verflucht, um seine dunklen Geheimnisse zu bewahren.
Jakob und Anna beschlossen, das Buch zu verbrennen, um den Fluch zu brechen. Sie warfen das Buch in den Kamin, und als die Flammen die Seiten verschlangen, hörten sie ein lautes Krachen aus der Richtung des Baumes. Am nächsten Morgen gingen sie zum Baum und sahen, dass er in sich zusammengebrochen war, als wäre eine unsichtbare Last von ihm genommen worden.
Die Dorfbewohner von Höchstetten erzählten sich fortan die Geschichte von Jakob Müller und dem alten Baum. Der Fluch war gebrochen, und der Baum wurde zu einem Symbol der Befreiung und des Mutes. Doch bis heute bleibt die Erinnerung an den Hexenmeister und sein dunkles Buch in den Herzen der Menschen lebendig, und die Legende des Alten Baumes von Höchstetten wird von Generation zu Generation weitergegeben.