In den malerischen Weinbergen von Jenins, einem kleinen Dorf im Kanton Graubünden, ranken sich viele Geschichten und Mythen um die alten Gemäuer und die sanften Hügel, die das Dorf umgeben. Eine der bekanntesten und zugleich unheimlichsten Sagen ist die der Weißen Frau von Jenins.
Es war vor vielen Jahrhunderten, als das Dorf Jenins noch von dichten Wäldern umgeben war und die Menschen in einfachen Holzhäusern lebten. In einem dieser Häuser wohnte die junge und schöne Margaretha, die Tochter eines wohlhabenden Winzers. Margaretha war bekannt für ihre Freundlichkeit und Hilfsbereitschaft, und viele junge Männer im Dorf warben um ihre Gunst. Doch ihr Herz gehörte nur einem: Hans, dem Sohn eines armen Holzfällers.
Die Liebe zwischen Margaretha und Hans war stark, doch sie wurde von Margarethas Vater nicht geduldet. Er wollte seine Tochter mit einem reichen Kaufmann aus der Stadt verheiraten, um den Wohlstand der Familie zu sichern. Trotz der Bitten und Tränen seiner Tochter blieb er hart und verbot ihr, Hans jemals wiederzusehen.
Eines Nachts, als der Vollmond über den Weinbergen schien, schlich sich Margaretha aus dem Haus, um Hans ein letztes Mal zu treffen. Sie trafen sich an ihrem geheimen Platz, einer alten Eiche am Rande des Waldes. Dort schworen sie sich ewige Liebe und beschlossen, gemeinsam zu fliehen. Doch das Schicksal hatte andere Pläne. Margarethas Vater, der ihren Plan durchschaut hatte, folgte ihnen mit einer Gruppe von Männern.
Als sie die Liebenden entdeckten, kam es zu einem heftigen Streit. In der Hitze des Gefechts stieß einer der Männer Margaretha von der Klippe, die sich hinter der alten Eiche befand. Hans, der versuchte, sie zu retten, stürzte ebenfalls in die Tiefe. Beide fanden in jener Nacht den Tod.
Seit jenem tragischen Ereignis erzählt man sich in Jenins die Geschichte der Weißen Frau. Es heißt, dass Margarethas Geist keine Ruhe findet und jede Nacht bei Vollmond in einem weißen Kleid durch die Weinberge wandelt, auf der Suche nach ihrem verlorenen Geliebten. Viele Dorfbewohner haben sie gesehen, eine schattenhafte Gestalt, die lautlos durch die Reben gleitet. Einige behaupten, ihre leisen Rufe nach Hans gehört zu haben, die vom Wind getragen werden.
Es gibt auch Berichte von Winzern, die behaupten, dass ihre Weinstöcke in der Nähe der alten Eiche besonders gut gedeihen. Sie glauben, dass dies Margarethas Geist ist, der über die Reben wacht und ihnen seinen Segen gibt. Doch niemand wagt es, in der Nähe der Eiche zu arbeiten, wenn der Vollmond am Himmel steht.
Die Dorfbewohner ehren Margaretha und Hans jedes Jahr mit einem kleinen Fest, bei dem sie Kerzen an der alten Eiche entzünden und Lieder singen, die von ihrer tragischen Liebe erzählen. Es ist eine Zeit der Besinnung und des Gedenkens, ein Moment, um die Vergangenheit zu ehren und die Geschichten, die das Dorf geprägt haben, lebendig zu halten.
Und so lebt die Legende der Weißen Frau von Jenins weiter, ein ewiger Teil der reichen Geschichte und Kultur dieses kleinen, aber bedeutungsvollen Ortes in den Schweizer Alpen.