In der malerischen Stadt Neuchâtel, eingebettet zwischen den sanften Hügeln des Juras und dem glitzernden See, gibt es eine uralte Sage, die von den Flüsternden Tiefen erzählt. Die Geschichte ist so alt wie die Stadt selbst und wird seit Generationen von den Einheimischen weitergegeben.
Es begann vor vielen Jahrhunderten, als Neuchâtel noch ein kleines, bescheidenes Dorf war, das hauptsächlich von Fischern und Handwerkern bewohnt wurde. Der See von Neuchâtel war schon damals ein wichtiger Bestandteil des Lebens der Dorfbewohner. Er spendete Nahrung und war ein Handelsweg, aber er barg auch Geheimnisse, die nur die Mutigsten zu ergründen wagten.
Eines Abends, als die Sonne langsam über dem Horizont verschwand und der Himmel in ein tiefes Orange getaucht war, kehrte ein Fischer namens Luc nicht von seiner täglichen Ausfahrt zurück. Seine Frau, Elise, wartete am Ufer, die Augen auf das sanfte Schaukeln der Wellen gerichtet, in der Hoffnung, das vertraute Segelboot ihres Mannes zu erblicken. Die Nacht brach herein, und mit ihr kam die Sorge. Die Dorfbewohner versammelten sich am Ufer, hielten Fackeln in den Händen und riefen nach Luc, doch keine Antwort kam zurück.
In den folgenden Tagen durchsuchten sie den See, aber Luc blieb verschwunden. Die Dorfbewohner begannen zu flüstern, dass die Tiefen des Sees ihn verschlungen hätten. Elise, von Trauer und Verzweiflung geplagt, weigerte sich, die Hoffnung aufzugeben. Jede Nacht ging sie zum Ufer, lauschte dem Rauschen der Wellen und sprach leise Gebete, in der Hoffnung, ein Zeichen ihres geliebten Mannes zu erhalten.
Eines Nachts, als der Mond hoch am Himmel stand und sein silbernes Licht über das Wasser goss, hörte Elise ein leises Flüstern. Es war, als ob der See selbst zu ihr sprach. Die Worte waren kaum mehr als ein Hauch, doch sie erkannte die Stimme. Es war Luc. Er erzählte von einer verborgenen Welt unter den Wellen, einer Stadt aus Licht und Schatten, in der die Seelen der Verlorenen lebten. Sie waren nicht tot, sondern gefangen in den Flüsternden Tiefen, unfähig, in die Welt der Lebenden zurückzukehren.
Elise war entschlossen, ihren Mann zu retten. Sie suchte Rat bei einer alten Weise des Dorfes, die als Hüterin der Geheimnisse bekannt war. Die Weise erzählte von einem alten Ritual, das es einem Sterblichen erlaubte, in die Flüsternden Tiefen hinabzusteigen. Doch es war gefährlich, und der Rückweg war ungewiss. Elise zögerte nicht. Die Liebe zu ihrem Mann gab ihr den Mut, das Unmögliche zu wagen.
In der folgenden Nacht führte die Weise Elise zum Seeufer. Sie trug ein Amulett aus Mondstein, das sie vor den dunklen Kräften schützen sollte. Mit einem letzten Blick auf die Sterne trat Elise in das kalte Wasser und ließ sich von den Wellen umarmen. Sie spürte, wie die Welt um sie herum verblasste, als sie tiefer und tiefer sank.
Plötzlich fand sie sich in einer Welt aus schimmerndem Licht wieder. Um sie herum erstreckte sich eine Stadt, die aus den Träumen der Menschheit zu bestehen schien. Die Gebäude waren aus Perlmutt und funkelten im Licht, das aus einer unbekannten Quelle strahlte. Die Luft war erfüllt von einem leisen Summen, das wie ein Chor der verlorenen Seelen klang.
Elise rief nach Luc, und bald erschien er, seine Gestalt halb durchsichtig, aber seine Augen voller Liebe. Er führte sie durch die Straßen der Unterwasserstadt, erzählte von den anderen Seelen, die hier lebten, und von der Hoffnung, eines Tages zurückkehren zu können. Doch die Flüsternden Tiefen hielten sie gefangen, und nur ein Opfer konnte sie befreien.
Elise wusste, was sie tun musste. Sie nahm das Amulett von ihrem Hals und legte es Luc um. Mit einem Kuss verabschiedete sie sich, und im nächsten Moment spürte sie, wie sie zurück an die Oberfläche gezogen wurde. Sie erwachte am Ufer, allein, aber mit der Gewissheit, dass Luc frei war.
Die Dorfbewohner fanden Elise am Morgen, erschöpft, aber mit einem friedlichen Lächeln auf den Lippen. Sie erzählte von ihrem Abenteuer und von der Stadt unter den Wellen. Seitdem wird die Geschichte der Flüsternden Tiefen in Neuchâtel erzählt, als Mahnung und Hoffnung zugleich. Und an stillen Nächten, wenn der Mond über dem See steht, kann man das Flüstern der verlorenen Seelen hören, die endlich Frieden gefunden haben.