In den tiefen Tälern und hoch aufragenden Gipfeln von Medel, einem abgelegenen und ruhigen Winkel der Surselva in Graubünden, erzählt man sich seit Jahrhunderten eine geheimnisvolle Legende. Diese Geschichte handelt von den Flüsternden Bergen, die den Reisenden, die den Lucmagn-Pass überquerten, ihre Geheimnisse zuflüsterten.
Es war einmal, vor vielen Generationen, als die Berge noch wilder und unberührter waren, dass ein junger Hirte namens Silvan in den Tälern von Medel lebte. Silvan war bekannt für seine unerschütterliche Neugier und seine Liebe zu den Bergen. Jeden Sommer trieb er seine Schafe auf die saftigen Weiden hoch oben in den Bergen, wo er oft stundenlang in die Ferne blickte und den Wolken beim Vorüberziehen zusah.
Eines Tages, als er seine Herde zum Lucmagn-Pass führte, bemerkte Silvan etwas Ungewöhnliches. Der Wind trug eine Melodie mit sich, ein kaum hörbares Flüstern, das aus den Felsen zu kommen schien. Neugierig folgte er dem Klang, der ihn zu einer versteckten Schlucht führte, die von hohen, schroffen Felswänden umgeben war. Die Melodie wurde lauter, und Silvan erkannte, dass es sich um Stimmen handelte, die in einer alten, vergessenen Sprache sangen.
Fasziniert setzte er sich auf einen Felsen und lauschte. Die Stimmen erzählten von einer Zeit, als die Berge noch jung waren und von mächtigen Geistern bewohnt wurden. Diese Geister, so sagten die Stimmen, hatten die Macht, das Schicksal der Menschen zu beeinflussen, die ihr Land durchquerten. Ihre Stimmen waren ein Echo aus der Vergangenheit, das nur von jenen gehört werden konnte, die das Herz der Berge verstanden.
Silvan war wie verzaubert. Jeden Tag kehrte er zurück, um den Flüstern zu lauschen und mehr über die Geheimnisse der Berge zu erfahren. Er begann, die alten Geschichten den Dorfbewohnern zu erzählen, die ihm jedoch nicht glaubten und seine Erzählungen als Hirngespinste abtaten. Doch Silvan ließ sich nicht beirren. Er wusste, dass die Flüsternden Berge eine Wahrheit kannten, die nur darauf wartete, entdeckt zu werden.
Eines Nachts, als der Mond über den Gipfeln stand und die Welt in silbernes Licht tauchte, hörte Silvan einen besonders eindringlichen Ruf. Die Stimmen schienen ihn zu bitten, tiefer in die Berge vorzudringen, an einen Ort, den noch kein Mensch betreten hatte. Ohne zu zögern, folgte er dem Ruf. Er stieg höher und höher, bis er schließlich an eine verborgene Höhle gelangte, deren Eingang von alten, verwitterten Steinen umrahmt war.
In der Höhle fand Silvan einen uralten Altar, bedeckt mit Moos und Flechten, umgeben von Kristallen, die im Mondlicht funkelten. Die Luft war erfüllt von einem leisen Summen, und die Stimmen erklangen jetzt klarer denn je. Sie offenbarten ihm, dass dies der heilige Ort der Berggeister war, ein Ort der Weisheit und der Macht. Silvan spürte eine tiefe Ehrfurcht und wusste, dass er Zeuge eines großen Geheimnisses geworden war.
Als er zurückkehrte, erzählte er niemandem von seinem Fund, doch die Geschichten, die er von den Flüsternden Bergen hörte, verbreiteten sich wie ein Lauffeuer. Die Menschen begannen, die Berge mit neuen Augen zu sehen, und manche behaupteten sogar, selbst das Flüstern gehört zu haben.
Mit der Zeit wurde Silvan ein weiser Mann, dessen Rat und Geschichten im ganzen Tal geschätzt wurden. Er lehrte die Menschen, die Natur zu respektieren und auf die leisen Stimmen zu hören, die in den Winden und Felsen verborgen waren.
Die Legende der Flüsternden Berge von Medel lebt bis heute weiter. Wanderer und Reisende, die den Lucmagn-Pass überqueren, halten oft inne und lauschen dem Wind, in der Hoffnung, ein Flüstern zu vernehmen. Und manchmal, in stillen Nächten, wenn der Mond über den Gipfeln steht, kann man die alten Melodien hören, die von längst vergangenen Zeiten erzählen. Die Flüsternden Berge hüten ihre Geheimnisse weiterhin, bereit, sie jenen zu offenbaren, die das Herz haben, zuzuhören.