In einer Zeit, als die Nächte dunkler und die Wälder dichter waren, lebte in Werthenstein ein Müller namens Jakob. Er war ein fleißiger Mann, der das Wasser des Flusses Emme nutzte, um seine Mühle zu betreiben. Doch in den langen Winternächten, wenn der Wind durch die Bäume heulte und die Eulen schaurige Lieder sangen, erzählten sich die Dorfbewohner Geschichten über seltsame Vorkommnisse rund um die alte Mühle.
Es begann an einem kalten Herbstabend. Jakob arbeitete spät in der Mühle, als er plötzlich ein leises Flüstern hörte. Er drehte sich um, doch da war niemand. Er schüttelte den Kopf und kehrte zu seiner Arbeit zurück, doch das Flüstern wurde lauter und deutlicher. Es klang wie das Weinen eines Kindes, das in der Dunkelheit verloren war. Jakob, ein Mann von starkem Gemüt, beschloss, der Sache auf den Grund zu gehen.
Er nahm eine Laterne und trat hinaus in die Nacht. Der Mond schien blass und der Wind trug das Weinen durch die Bäume. Jakob folgte dem Klang, der ihn immer tiefer in den Wald führte. Schließlich erreichte er eine Lichtung, auf der eine alte, verfallene Kapelle stand. Die Kapelle war seit Jahren verlassen und die Dorfbewohner mieden sie aus Angst vor bösen Geistern.
Jakob trat vorsichtig näher und öffnete die knarrende Tür der Kapelle. Drinnen war es dunkel und kalt, und der Klang des Weinens hallte von den Wänden wider. Plötzlich erblickte er eine Gestalt im Schein seiner Laterne. Es war ein kleines Mädchen, in ein weißes Kleid gehüllt, das auf dem Boden saß und leise weinte.
„Wer bist du?“ fragte Jakob mit bebender Stimme.
Das Mädchen sah auf und ihre Augen waren tief und traurig. „Ich bin Anna“, sagte sie leise. „Ich bin hier gefangen und kann nicht ruhen.“
Jakob war verwirrt. „Warum bist du gefangen? Was ist mit dir passiert?“
Anna erzählte ihm ihre tragische Geschichte. Vor vielen Jahren war sie die Tochter eines reichen Kaufmanns gewesen, der in der Nähe lebte. Eines Tages wurde sie entführt und in der Kapelle eingesperrt. Trotz der verzweifelten Suche ihres Vaters konnte sie nicht gefunden werden und starb schließlich in der Einsamkeit und Dunkelheit der Kapelle.
Jakob versprach, ihr zu helfen. Er wusste, dass er den Geist des Mädchens erlösen musste, um sie in Frieden ruhen zu lassen. Er kehrte ins Dorf zurück und erzählte den Dorfbewohnern von seiner Begegnung. Gemeinsam beschlossen sie, die Kapelle zu säubern und eine Gedenkfeier für das Mädchen abzuhalten.
Am nächsten Tag versammelten sich die Dorfbewohner in der Kapelle. Sie brachten Blumen, Kerzen und Gebete, um Anna zu ehren. Jakob sprach ein letztes Gebet und bat darum, dass der Geist des Mädchens Frieden finden möge.
Als die letzte Kerze entzündet wurde, erfüllte ein warmes Licht die Kapelle. Die Gestalt des Mädchens erschien erneut, doch diesmal lächelte sie. „Danke“, flüsterte sie, bevor sie langsam verschwand und die Kapelle in einem sanften, beruhigenden Licht zurückließ.
Von diesem Tag an war die Kapelle kein Ort des Schreckens mehr, sondern ein Ort des Friedens und der Erinnerung. Die Dorfbewohner besuchten sie regelmäßig, um Anna zu gedenken und ihre Geschichte weiterzuerzählen. Jakob setzte seine Arbeit in der Mühle fort, doch er wusste, dass er etwas Bedeutendes getan hatte.
Die Geschichte von Anna und der alten Kapelle wurde von Generation zu Generation weitergegeben, und die Menschen von Werthenstein erinnern sich noch heute an den Spuk, der einst die Nächte erfüllte. Die Kapelle steht noch immer, ein stiller Zeuge der Vergangenheit, und die Dorfbewohner wissen, dass sie niemals die Macht der Erinnerung und des Mitgefühls unterschätzen dürfen.
So endet die Sage vom Spuk von Werthenstein, eine Geschichte von Trauer, Erlösung und dem unerschütterlichen Willen eines Dorfes, einem verlorenen Geist den Frieden zu bringen.