In den tiefen Wäldern des Emmentals, unweit des beschaulichen Dorfes Signau, rankt sich eine Sage, die seit Generationen weitergegeben wird. Es ist eine Geschichte von Liebe, Verrat und einem düsteren Geheimnis, das die Seelen der Dorfbewohner bis heute in seinen Bann zieht.
Es war vor vielen Jahrhunderten, als Signau noch ein kleiner Weiler war, umgeben von dichten Wäldern und saftigen Wiesen. Damals lebte dort ein junger Mann namens Hans, der als Jäger bekannt war. Hans war nicht nur für seine Jagdkünste berühmt, sondern auch für seine unerschrockene Natur und sein gutes Herz. Doch was ihn wirklich auszeichnete, war seine Liebe zu Anna, der Tochter des Dorfältesten.
Anna war von unvergleichlicher Schönheit und Güte. Ihr Lächeln konnte selbst die härtesten Herzen erweichen, und ihre Augen funkelten wie die Sterne am Nachthimmel. Hans und Anna waren ein unzertrennliches Paar, und ihre Liebe war das Gesprächsthema des ganzen Dorfes.
Eines Tages, als der Herbst die Wälder in ein Farbenmeer verwandelte, entschied sich Hans, auf die Jagd zu gehen. Er wollte Anna mit einem prächtigen Hirsch überraschen, den er erlegen wollte. Bevor er aufbrach, versprach er Anna, noch vor Einbruch der Dunkelheit zurückzukehren. Doch die Stunden vergingen, und die Nacht brach herein, ohne dass Hans zurückkehrte.
Anna wurde von einer unbestimmten Angst ergriffen. Sie konnte nicht schlafen und verbrachte die ganze Nacht am Fenster, den Blick auf den Wald gerichtet. Am nächsten Morgen machte sich das ganze Dorf auf die Suche nach Hans. Sie durchkämmten die Wälder, riefen seinen Namen, doch von Hans fehlte jede Spur.
Tage vergingen, und die Hoffnung schwand. Die Dorfbewohner begannen zu glauben, dass Hans von einem wilden Tier angegriffen oder in eine Schlucht gestürzt war. Doch Anna wollte sich damit nicht abfinden. Sie spürte tief in ihrem Herzen, dass Hans noch lebte.
Eines Nachts, als der Vollmond den Wald in ein gespenstisches Licht tauchte, entschied sich Anna, selbst nach Hans zu suchen. Sie schlich sich aus dem Haus und folgte einem schmalen Pfad, der tief in den Wald führte. Der Wind heulte durch die Bäume, und die Schatten tanzten im Mondlicht.
Plötzlich hörte Anna ein leises Flüstern. Es klang wie eine Stimme, die ihren Namen rief. Sie folgte dem Klang und gelangte zu einer kleinen Lichtung. Dort, im Schein des Mondes, sah sie eine Gestalt. Es war Hans. Doch etwas war anders. Seine Augen waren leer, und sein Gesicht war von einem unheimlichen Schatten umhüllt.
“Hans!” rief Anna und rannte auf ihn zu. Doch als sie ihn berührte, spürte sie nur Kälte. Hans erzählte ihr mit gebrochener Stimme, dass er von einem dunklen Wesen, einem Schatten, verflucht worden war. Dieses Wesen hatte ihn in den Wald gelockt und seine Seele gefangen genommen.
Anna versprach, ihn zu retten. Sie suchte Rat bei der weisesten Frau des Dorfes, einer alten Heilerin namens Greta. Greta erzählte ihr von einem uralten Ritual, das den Fluch brechen könnte. Doch es würde großen Mut und Opferbereitschaft erfordern.
In der nächsten Vollmondnacht kehrte Anna zur Lichtung zurück, bewaffnet mit den Zutaten für das Ritual: Kräuter, ein silberner Dolch und eine Kerze aus reinem Bienenwachs. Sie stellte sich dem Schatten entgegen und sprach die mächtigen Worte, die Greta ihr beigebracht hatte.
Der Schatten lachte höhnisch, doch als Anna den Dolch hob und sich selbst in die Hand schnitt, um ihr Blut zu opfern, schrie das Wesen auf. Mit einem letzten, verzweifelten Flüstern verschwand der Schatten, und Hans fiel in Annas Arme. Der Fluch war gebrochen.
Hans und Anna kehrten ins Dorf zurück, und ihre Geschichte wurde zur Legende. Doch die Dorfbewohner von Signau wissen bis heute, dass der Schatten noch immer in den Wäldern lauert, auf der Suche nach neuen Opfern. Und so wird die Sage von Hans und Anna weiter erzählt, als Warnung und Erinnerung an die Macht der Liebe und den Mut, sich dem Dunkel zu stellen.