Sagen aus der Schweiz Sagen Welt

Der Hüter des Nuglarer Waldes

Es war eine sternenklare Nacht im kleinen Dorf Nuglar-St. Pantaleon, als Jakob, ein junger Holzfäller, sich auf den Weg machte, um im nahegelegenen Wald nach dem Rechten zu sehen. Die Dorfbewohner erzählten sich seit Generationen von einem geheimnisvollen Hüter des Waldes, einem Wesen, das die Natur beschützte und jeden bestrafte, der ihr Schaden zufügte. Doch Jakob, ein rationaler und mutiger Mann, schenkte diesen Geschichten keinen Glauben.

Mit seiner Axt über der Schulter und einer Laterne in der Hand betrat er den dichten Wald. Die Bäume standen wie stumme Wächter, und das Mondlicht warf gespenstische Schatten auf den Boden. Jakob ging zielstrebig den schmalen Pfad entlang, der zu einer Lichtung führte, wo er am nächsten Morgen mit den Arbeiten beginnen wollte.

Plötzlich hörte er ein leises Rascheln im Unterholz. Er blieb stehen und lauschte. Ein kalter Windhauch strich durch die Äste, und das Rascheln wurde lauter. „Wer ist da?“ rief Jakob, doch es kam keine Antwort. Er ging weiter, doch das Gefühl, beobachtet zu werden, ließ ihn nicht los.

Als er die Lichtung erreichte, bemerkte er, dass dort etwas nicht stimmte. Die Bäume schienen sich zu bewegen, als ob sie lebendig wären. Jakob schüttelte den Kopf und lachte nervös. „Das ist nur meine Einbildung“, murmelte er und begann, die Umgebung zu inspizieren.

Plötzlich tauchte aus dem Schatten ein seltsames Wesen auf. Es war etwa menschengroß, doch sein Körper war mit Moos und Blättern bedeckt, und seine Augen leuchteten in einem unheimlichen Grün. Jakob erstarrte. „Wer bist du?“ fragte er mit zitternder Stimme.

„Ich bin der Hüter des Waldes“, antwortete das Wesen mit einer tiefen, hallenden Stimme. „Warum bist du hier, Mensch?“

Jakob sammelte seinen Mut. „Ich bin Holzfäller. Ich werde morgen hier Bäume fällen.“

Der Hüter des Waldes trat näher. „Dieser Wald ist heilig. Jeder Baum, jedes Tier, jede Pflanze ist unter meinem Schutz. Wer ihn verletzt, wird die Konsequenzen tragen.“

Jakob fühlte einen kalten Schauer über seinen Rücken laufen. „Das sind nur Geschichten“, sagte er trotzig. „Ich habe eine Familie zu ernähren. Ich werde tun, was ich muss.“

Der Hüter des Waldes hob eine Hand, und plötzlich begann der Boden unter Jakobs Füßen zu beben. „Du bist gewarnt worden“, sagte das Wesen. „Geh jetzt und kehre nie zurück.“

Jakob rannte, so schnell ihn seine Beine trugen, zurück ins Dorf. Doch die Warnung des Hüters ließ ihn nicht los. In den folgenden Tagen versuchte er, seine Arbeit fortzusetzen, doch jedes Mal, wenn er den Wald betrat, spürte er die Augen des Hüters auf sich. Werkzeuge verschwanden, Bäume fielen in die falsche Richtung, und seltsame Geräusche erfüllten die Luft.

Eines Nachts, als Jakob in seinem Bett lag und über die Ereignisse nachdachte, beschloss er, den Rat des Hüters zu befolgen. Er erzählte den Dorfbewohnern von seiner Begegnung, doch viele lachten nur und nannten ihn einen Feigling. Einige jedoch erinnerten sich an die alten Geschichten und beschlossen, den Wald zu meiden.

Die Jahre vergingen, und Jakob fand eine andere Arbeit, weit weg vom Wald. Doch die Legende des Hüters des Nuglarer Waldes lebte weiter. Die Dorfbewohner erzählten sie ihren Kindern und Enkeln, und jeder, der den Wald betrat, tat es mit Respekt und Vorsicht.

Eines Tages, viele Jahre später, kehrte Jakob als alter Mann zurück nach Nuglar-St. Pantaleon. Er ging ein letztes Mal in den Wald, um sich zu verabschieden. Auf der Lichtung, wo er einst dem Hüter begegnet war, stand nun ein prächtiger Baum, der größer und mächtiger war als alle anderen.

Jakob kniete nieder und flüsterte: „Danke, dass du mich gewarnt hast.“ Der Wind rauschte durch die Blätter, und für einen Moment glaubte Jakob, das leise Lachen des Hüters zu hören.

Von diesem Tag an blieb der Wald von Nuglar-St. Pantaleon unberührt und heilig, ein ewiges Zeugnis der Macht der Natur und des geheimnisvollen Hüters, der ihn beschützte.