In den sanften Hügeln des Neuenburger Sees liegt das malerische Dorf Milvignes, ein Ort, der auf den ersten Blick nichts anderes als Ruhe und Frieden ausstrahlt. Doch unter der Oberfläche dieser Idylle verbirgt sich eine alte und düstere Sage, die von Generation zu Generation weitergegeben wird.
Es war vor vielen Jahrhunderten, als Milvignes noch ein kleines Fischerdorf war, dass die Geschichte ihren Anfang nahm. In jenen Tagen lebte ein Fischer namens Jean-Luc, ein Mann, der für seine Freundlichkeit und seinen unerschütterlichen Glauben bekannt war. Jean-Luc war nicht nur ein geschickter Fischer, sondern auch ein liebevoller Vater und Ehemann. Er lebte mit seiner Frau Claire und ihrer kleinen Tochter Elise in einem bescheidenen Haus am Rande des Dorfes.
Eines stürmischen Herbstabends, als die Wellen des Sees gegen die Ufer peitschten und der Wind durch die Bäume heulte, machte sich Jean-Luc trotz der Warnungen seiner Nachbarn auf, um zu fischen. Er versprach Claire, bald zurück zu sein, doch die Nacht verging und Jean-Luc kehrte nicht zurück. Als der Morgen dämmerte und das Boot des Fischers noch immer nicht in Sicht war, machte sich Claire auf den Weg zum See, um nach ihrem Mann zu suchen.
Am Ufer fand sie nur das leere Boot, das sanft in den Wellen schaukelte. Von Jean-Luc fehlte jede Spur. Die Dorfbewohner durchsuchten den See und die umliegenden Wälder, doch es war, als hätte sich der Fischer in Luft aufgelöst. Die Tage vergingen und die Hoffnung schwand. Claire war untröstlich, und auch Elise weinte jede Nacht nach ihrem Vater.
Eines Nachts, als Claire in einem unruhigen Schlaf lag, hörte sie plötzlich ein leises Flüstern. Es war die Stimme von Jean-Luc, die ihren Namen rief. Sie sprang aus dem Bett und eilte zum See, wo sie im Mondlicht eine Gestalt am Ufer stehen sah. Es war Jean-Luc, doch er war nicht mehr derselbe. Sein Körper war durchsichtig, und seine Augen hatten einen geisterhaften Glanz.
“Claire,” flüsterte er, “ich bin gefangen zwischen den Welten. Der See hat mich genommen, und ich kann nicht zurückkehren. Doch es gibt einen Weg, mich zu befreien. Du musst den alten Fluch brechen, der auf dem See lastet.”
Claire war verzweifelt, doch sie war entschlossen, ihren Mann zu retten. Sie suchte den Rat der ältesten Frau im Dorf, einer weisen und geheimnisvollen Frau namens Marguerite. Marguerite erzählte ihr von einem alten Fluch, der über dem See lag. Vor vielen Jahrhunderten hatte ein mächtiger Zauberer den See verflucht, um die Dorfbewohner für eine alte Fehde zu bestrafen. Der Fluch konnte nur gebrochen werden, wenn jemand das Herz des Sees fand und es mit reiner Liebe berührte.
Claire wusste, dass sie keine Zeit verlieren durfte. Sie machte sich auf die Suche nach dem Herz des Sees, einer geheimen Höhle tief unter dem Wasser. Mit der Hilfe der Dorfbewohner und Marguerite fand sie schließlich den Eingang zur Höhle. Sie tauchte hinab in die dunklen Tiefen des Sees, geführt von der Liebe zu ihrem Mann.
In der Höhle fand sie einen alten Altar, auf dem ein leuchtendes Herz aus Kristall lag. Claire nahm das Herz in ihre Hände und sprach ein Gebet der Liebe und Hoffnung. In diesem Moment erstrahlte das Herz in einem blendenden Licht, und der Fluch wurde gebrochen.
Jean-Luc erschien erneut vor Claire, doch diesmal war er kein Geist mehr. Er war zurück in der Welt der Lebenden. Die Dorfbewohner jubelten, und Claire und Jean-Luc umarmten sich unter Tränen der Freude. Der See war von seinem Fluch befreit, und das Dorf Milvignes kehrte zu seinem friedlichen Dasein zurück.
Seit jenem Tag erzählt man sich in Milvignes die Geschichte des Geistes von Jean-Luc und der mutigen Claire, die durch ihre Liebe und ihren Glauben das Unmögliche möglich machten. Und wenn der Wind durch die Bäume rauscht und die Wellen sanft ans Ufer schlagen, erinnert sich das Dorf an die Nacht, als der Fluch des Sees gebrochen wurde.