In den tiefen Tälern von Ormont-Dessous, nahe der Stadt Aigle im Kanton Waadt, steht das ehrwürdige Château d’Aigle, ein Schloss, das seit Jahrhunderten über die umliegenden Weinberge wacht. Die Mauern des Schlosses sind Zeugen von Jahrhunderten der Geschichte und haben viele Geheimnisse in ihren kalten Steinen bewahrt. Eine der ältesten und am meisten geflüsterten Legenden dieser Region erzählt von einem Geist, der in den Hallen des Château d’Aigle umherwandert.
Es war im 15. Jahrhundert, als das Schloss von der mächtigen Familie d’Aigle bewohnt wurde. Der Herr des Hauses war der strenge und unbarmherzige Baron Armand d’Aigle. Er war bekannt für seine Härte gegenüber den Bauern und Winzern, die auf seinem Land arbeiteten. Eines kalten Winterabends, als der Schnee wie ein weißer Mantel über die Felder lag, klopfte ein armer Winzer namens Jacques an das große Tor des Schlosses. Er war verzweifelt, denn ein Unwetter hatte seine Weinreben zerstört, und er wusste, dass er die Pacht nicht würde zahlen können.
Baron Armand, in seinem prächtigen Saal am Kamin sitzend, ließ den armen Mann hereinbringen. Jacques fiel auf die Knie und bat den Baron um Gnade. Doch Armand, dessen Herz so kalt wie der Winterwind war, lachte nur höhnisch. “Du wirst mir entweder das Geld bringen, das du schuldest, oder du wirst dein Land und dein Zuhause verlieren”, sprach er mit einer Stimme, die wie Eis klang. Jacques flehte weiter, doch es war vergebens. Der Baron ließ ihn ohne ein weiteres Wort hinauswerfen.
Die Verzweiflung trieb Jacques zu einem verzweifelten Entschluss. In jener Nacht schlich er sich zurück zum Schloss, entschlossen, den Baron zur Rechenschaft zu ziehen. Mit einem alten Dolch bewaffnet, den er von seinem Großvater geerbt hatte, drang er in die Gemächer des Barons ein. Doch bevor er seinen Plan ausführen konnte, wurde er von den Wachen entdeckt und in die tiefen Verliese des Schlosses geworfen. Dort, in der Dunkelheit und Kälte, starb Jacques an Hunger und Erschöpfung.
Seit jener schicksalhaften Nacht berichten die Bewohner von Ormont-Dessous von seltsamen Vorkommnissen im Château d’Aigle. Es heißt, dass in den stillen Stunden der Nacht, wenn der Mond hoch am Himmel steht, die gequälte Seele von Jacques durch die Korridore des Schlosses wandert. Einige behaupten, sein leises Wehklagen zu hören, während andere schwören, einen Schatten gesehen zu haben, der sich lautlos durch die Hallen bewegt.
Eines Nachts, viele Jahre später, als das Schloss in der Dunkelheit lag, hörte der neue Herr des Hauses, der gutherzige Graf Louis, ein leises Klopfen an seiner Tür. Er öffnete sie und sah zu seinem Erstaunen die geisterhafte Gestalt eines Mannes, dessen Augen vor Schmerz und Trauer glühten. Es war Jacques. Der Geist sprach mit einer Stimme, die wie ein Flüstern des Windes klang: “Befreie mich von diesem Fluch, Graf Louis. Gerechtigkeit muss geschehen.”
Graf Louis, der das Leid des Geistes sah, versprach, alles in seiner Macht Stehende zu tun, um Jacques’ Seele zu erlösen. Er ordnete an, dass die Geschichte von Jacques’ Ungerechtigkeit in allen Dörfern der Region erzählt werden sollte, damit niemand die Grausamkeiten des Barons Armand vergessen würde. Zudem ließ er ein kleines Denkmal für Jacques errichten, um seiner zu gedenken und um Vergebung zu bitten.
Mit der Zeit schien der Geist des Jacques ruhiger zu werden. Die seltsamen Vorkommnisse im Schloss nahmen ab, und die Bewohner von Ormont-Dessous begannen zu glauben, dass Jacques endlich Frieden gefunden hatte. Doch es heißt, dass in besonders kalten Winternächten, wenn der Wind durch die Weinberge heult, der Geist von Jacques noch immer durch die Hallen des Château d’Aigle wandert, als stumme Erinnerung an die Ungerechtigkeiten der Vergangenheit und als Mahnung, dass Gnade und Mitgefühl niemals vergessen werden dürfen.
So lebt die Legende des Geistes des Château d’Aigle weiter, eine Geschichte von Leid und Erlösung, die tief in den Herzen der Menschen von Ormont-Dessous verwurzelt ist.