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Der Fluch von Lüsslingen-Nennigkofen

In den sanften Hügeln des Bucheggbergs liegt das kleine Dorf Lüsslingen-Nennigkofen, umgeben von dichten Wäldern und geheimnisvollen Mooren. Die Menschen hier leben seit Generationen in enger Verbundenheit mit der Natur, aber auch mit den alten Geschichten und Mythen, die sich um ihre Heimat ranken. Eine dieser Geschichten erzählt von einem dunklen Fluch, der auf dem Dorf lastet und bis heute nicht gebrochen werden konnte.

Es war vor vielen hundert Jahren, als ein mächtiger Burgherr namens Graf Albrecht von Lüsslingen über die Region herrschte. Er war bekannt für seine Grausamkeit und seinen unstillbaren Durst nach Macht und Reichtum. Eines Tages hörte er von einer alten Frau, die tief im Wald lebte und über magische Kräfte verfügen sollte. Man sagte, sie könne Wünsche erfüllen und Schätze herbeizaubern. Getrieben von Gier und Neugier machte sich Graf Albrecht auf den Weg, um die alte Frau zu finden.

Nach tagelanger Suche fand er schließlich ihre Hütte, versteckt zwischen uralten Bäumen und überwuchertem Gestrüpp. Die alte Frau, die von den Dorfbewohnern nur als die “Weise von Nennigkofen” bezeichnet wurde, empfing ihn mit einem wissenden Lächeln. Graf Albrecht verlangte von ihr, ihm Reichtum und Unsterblichkeit zu schenken. Die Weise warnte ihn vor den Konsequenzen seiner Gier, doch der Graf lachte nur spöttisch und drohte ihr mit dem Tod, sollte sie seinen Wünschen nicht nachkommen.

Widerwillig stimmte die Weise zu und bereitete einen Trank aus geheimnisvollen Kräutern und magischen Zutaten. Sie reichte dem Grafen den Trank und sprach dabei eine alte Beschwörungsformel. Doch kaum hatte Albrecht den Trank getrunken, verzerrte sich sein Gesicht vor Schmerz. Die Weise hatte ihn getäuscht: Anstatt ihm Reichtum und Unsterblichkeit zu schenken, hatte sie einen Fluch über ihn und sein gesamtes Geschlecht gelegt.

Der Graf fiel zu Boden, unfähig, sich zu bewegen, während die alte Frau mit ruhiger Stimme den Fluch erklärte: “Du und deine Nachkommen sollen für immer an diesen Ort gebunden sein. Eure Seelen werden keine Ruhe finden, bis eure Gier und Grausamkeit gesühnt sind. Euer Reichtum wird sich in Asche verwandeln, und eure Macht wird euch verlassen. Nur wahre Reue und ein reines Herz können den Fluch brechen.”

Mit diesen Worten verschwand die Weise im dichten Wald, und Graf Albrecht blieb allein zurück, gefangen in seinem eigenen Körper. Die Dorfbewohner fanden ihn am nächsten Tag, doch er konnte weder sprechen noch sich bewegen. Er lebte noch viele Jahre in diesem Zustand, bis er schließlich starb. Doch der Fluch blieb bestehen.

Seit jenem Tag berichten die Menschen in Lüsslingen-Nennigkofen von seltsamen Ereignissen und unheimlichen Erscheinungen. Es heißt, dass der Geist des Grafen und seiner Nachkommen noch immer durch die Wälder streift, auf der Suche nach Erlösung. Manche behaupten, in mondlosen Nächten das Klagen und Weinen der verfluchten Seelen zu hören. Andere erzählen von flackernden Lichtern, die tief im Wald erscheinen und plötzlich wieder verschwinden.

Eine besonders eindrucksvolle Begegnung hatte der junge Jäger Hans, der eines Nachts auf der Pirsch war. Er hatte sich tief in den Wald gewagt, als er plötzlich ein kaltes Schaudern über den Rücken laufen spürte. Vor ihm tauchte eine Gestalt auf, die wie ein Schatten zwischen den Bäumen schwebte. Es war der Geist von Graf Albrecht, der mit leerem Blick und ausgestreckten Armen auf Hans zukam. Der Jäger erstarrte vor Angst, doch dann erinnerte er sich an die Worte seines Großvaters, der ihm einst von dem Fluch erzählt hatte.

Hans fasste all seinen Mut zusammen und sprach mit fester Stimme: “Graf Albrecht, ich kenne deine Geschichte und den Fluch, der auf dir lastet. Ich bin bereit, dir zu helfen, wenn du mir vertraust.” Der Geist hielt inne und schien für einen Moment zu zögern, bevor er langsam verschwand. Hans wusste, dass er die Aufgabe hatte, den Fluch zu brechen.

Von diesem Tag an widmete sich Hans der Suche nach der alten Weisheit und den magischen Kräften, die den Fluch lösen könnten. Er verbrachte Jahre damit, alte Schriften zu studieren und die Geheimnisse des Waldes zu ergründen. Schließlich fand er die Lösung: Ein Ritual der Reue und der Vergebung, das nur mit einem reinen Herzen und aufrichtiger Reue durchgeführt werden konnte.

An einem kalten Winterabend versammelte sich das ganze Dorf, um Hans bei der Durchführung des Rituals zu unterstützen. Sie sprachen Gebete, entzündeten Kerzen und baten um Vergebung für die Taten des Grafen und seiner Nachkommen. Als das Ritual beendet war, erhob sich ein sanfter Wind, der die Kerzenflammen flackern ließ. Eine warme, friedliche Stille legte sich über den Wald.

Seit jenem Tag sind die unheimlichen Erscheinungen verschwunden, und die Dorfbewohner von Lüsslingen-Nennigkofen leben in Frieden. Der Fluch ist gebrochen, und die Seelen des Grafen und seiner Nachkommen haben endlich Ruhe gefunden. Doch die Geschichte bleibt als Mahnung erhalten, dass Gier und Grausamkeit immer ihren Preis haben und dass wahre Erlösung nur durch Reue und ein reines Herz erreicht werden kann.