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Der Fluch des Neckertals

Es war eine dunkle, stürmische Nacht im Neckertal, als die alte Bäuerin Marta in ihrer einsamen Hütte saß und dem Heulen des Windes lauschte. Ihre Familie war seit Generationen auf diesem Land ansässig, und sie kannte jede Legende und jeden Aberglauben der Region. Doch an diesem Abend sollte sie eine Geschichte erleben, die selbst die schaurigsten Erzählungen in den Schatten stellte.

Marta hatte gerade das Feuer im Kamin geschürt, als ein lautes Klopfen an der Tür sie aus ihren Gedanken riss. Verwundert öffnete sie die Tür und fand einen jungen Mann, durchnässt und zitternd, vor ihrer Schwelle. Seine Augen waren weit aufgerissen vor Angst, und seine Stimme bebte, als er um Einlass bat.

„Kommt herein, junger Mann“, sagte Marta mitfühlend und führte ihn zum Feuer. „Was hat euch in dieser Nacht hierher verschlagen?“

Der junge Mann, der sich als Jakob vorstellte, erzählte eine unglaubliche Geschichte. Er war auf dem Weg nach Hause gewesen, als er in der Nähe des alten Friedhofs eine seltsame Erscheinung gesehen hatte. Eine geisterhafte Gestalt, die über den Gräbern schwebte und in einem unverständlichen Singsang murmelte. Als sie ihn bemerkte, hatte sie ihn mit glühenden Augen angestarrt, und er war in panischer Angst davongelaufen.

Marta hörte aufmerksam zu und nickte langsam. „Das muss der Geist von Anna sein“, sagte sie schließlich. „Die Geschichte geht zurück auf das Jahr 1678, als Anna, eine junge Frau aus dem Dorf, von einem eifersüchtigen Liebhaber ermordet wurde. Ihr Geist soll seitdem keine Ruhe finden.“

Jakob war entsetzt. „Was können wir tun?“, fragte er verzweifelt. „Ich kann nicht zurückgehen, solange dieser Fluch über dem Tal liegt.“

Marta dachte einen Moment nach, dann erhob sie sich und holte ein altes Buch aus einem Regal. „Es gibt eine Möglichkeit“, sagte sie leise. „Eine uralte Beschwörung, die den Geist beruhigen und den Fluch brechen kann. Aber es ist gefährlich, und wir müssen es noch vor Mitternacht tun.“

Jakob nickte entschlossen. „Ich bin bereit“, sagte er. „Was müssen wir tun?“

Marta erklärte, dass sie zum Friedhof zurückkehren und die Beschwörung direkt vor Annas Grab durchführen müssten. Sie packte einige Kerzen, ein altes Amulett und das Buch ein, und gemeinsam machten sie sich auf den Weg durch das stürmische Tal.

Der Friedhof lag düster und verlassen im Mondlicht, und der Wind schien mit den Geistern der Verstorbenen zu flüstern. Marta stellte die Kerzen um Annas Grab auf und begann mit der Beschwörung. Ihre Stimme war fest und klar, doch die Luft schien sich um sie herum zu verdichten, als ob unsichtbare Kräfte gegen ihre Worte ankämpften.

Plötzlich erschien der Geist von Anna erneut, diesmal noch bedrohlicher und wütender. Ihre Augen funkelten wie Kohlen, und sie schrie in einer fremden, unheimlichen Sprache. Jakob fühlte, wie eine eisige Kälte ihn durchdrang, doch Marta ließ sich nicht beirren. Sie sprach die letzten Worte der Beschwörung und hielt das Amulett hoch.

Ein blendendes Licht erfüllte den Friedhof, und Annas Geist schrie ein letztes Mal auf, bevor er in einem Wirbel aus Nebel und Schatten verschwand. Die Stille, die folgte, war fast greifbar, und der Wind hatte sich gelegt. Marta und Jakob standen keuchend da, doch sie wussten, dass der Fluch gebrochen war.

„Es ist vollbracht“, sagte Marta schließlich und lächelte erschöpft. „Annas Geist hat endlich Frieden gefunden.“

Jakob bedankte sich tief bei Marta und versprach, ihre Geschichte niemals zu vergessen. Das Neckertal kehrte zu seiner friedlichen Stille zurück, doch die Legende von Anna und dem mutigen jungen Mann, der den Fluch brach, wurde noch viele Jahre lang erzählt.